„So so, ja ja , der Mont Ventoux…….. “ , ertönte es alle 15 Minuten aus der hinteren Busreihe auf der Abi- Abschlussfahrt mit abnehmendem Enthusiasmus. Unser Lehrer, Herr Söder, war ein riesiger Fan der Provence, unterrichtete ausgerechnet den vor kühler Logik strotzenden Mathe Leistungskurs, was in starkem Kontrast zu seiner plötzlich gezeigten Leidenschaft stand und hatte ähnlich wie die begleitenden potentiellen Abiturienten ansonsten mit Frankreich nicht viel am Hut. Die mochten zwar die einfachen kulinarischen Leckereien wie Rotwein, geröstetes Baguette und frischen Knoblauch, konnten aber die Vorliebe für Landschaft und römische Hinterlassenschaften nicht mit ihm teilen. Als französisch Afficinados mussten daher die Teilnehmer*innen des Französisch Leistungskurses herhalten, denen das Interesse an Frankreich im Laufe des Lernens der Sprache gründlich verlitten wurde. Ich kann mich noch nicht mal daran erinnern, wer die zuständige Lehrkraft war. Mit dieser Truppe also fuhren wir kreuz und quer durch die Provence, alle 15 Minuten riss Herr Söder enthusiastisch das Mikro aus der Halterung und rief begeistert: „und links sehen Sie den Mont Ventoux…“ oder „und „rechts sehen Sie den Mont Ventoux…..“ . Manchmal war der Berg vorne, manchmal hinten, aber verpassen konnten wir ihn nicht.

Zu dieser Zeit interessierte mich dieser Berg aber einfach nicht. Mickrige 2000m hoch, keine Schneefelder, keine Steilwände, keine Bergsteigerhelden. Ich war ja der selbstgekrönte Dolomitenkönig, kannte und liebte jeden Berg in den Sextener Dolomiten mit seinen schroffen Gipfeln und fast unbezwingbaren Wänden. Einige Wenige von Oben, die Schwierigen von Unten. Und alles, was mit dem Fahrrad zu tun hatte, war für Arme, denn ich sparte für ein Motorrad. Vierzylinder, damals nahezu unbeherrschbare 37 PS für echte Kerle. Mit diesem war ich dann auch mal oben auf dem Mont Ventoux. Und mich traf der Schlag: ich habe mich verliebt in diesen Berg.

Auch auf dem Motorrad umwehte mich der Geist des Radfahrens. Es war nicht viel los an diesem Tag und doch passierten wir alle paar hundert Meter einen Rennradler. Beim 4. oder 5. fiel mir auf, dass es meistens alte Männer auf ihren historischen Bikes waren, die sich da mit langer Übersetzung die Straße hinaufquälten. Ich hielt sie zunächst für Geistererscheinungen und habe sie vorsorglich bewundert. Man weiss ja nie, was die Geister des Rennrades so machen, wenn es Abend wird. Später sah ich zufällig mal eine Reportage über die alten Männer am Mont Ventoux. Manche fahren tatsächlich mit 80/ 90 Jahren mindestens ein mal die Woche dort hinauf. Gut, dass ich sie vorsorglich bewundert habe. Nach einer mit dem Motorrad sehr angenehmen Fahrt durch südliche Wälder, im Duft der Kiefern und einem Hauch Lavendel, ändert sich schlagartig die Szenerie. Von einer Sekunde auf die andere war ich im Hochgebirge. Strahlend weisser Kalkstein dominiert die Landschaft, der Berg ist ein einziges Geröllfeld, manche nennen es Wüste. Jetzt lernte ich auch Tom Simpson kennen, den bekanntesten Dopingtoten der Tourgeschichte. An seinem Denkmal legten seit den 60ern hunderte von Radlern Devotionalien wie Kettenblätter, Trinkflaschen, Schläuche und so weiter ab, damals zumindest. Und ganz oben wusste ich dann auch, warum der Berg „Berg des Windes“ heisst. Egal aus welcher Himmelsrichtung, der Berg ist so exponiert, dass ihn der Wind immer heftig trifft. Und der ist kühl, sehr kühl. Und doch war es um mich geschehen, hier muss ich eines Tages mit dem Rennrad rauf, die alten Männer zeigen mir, dass es geht. Aufi, auf ´n Berg muss i, zitierte mein innerer Geist die Platte „der Watzmann ruft“. Aber es muss ja nicht sofort sein, mit 80/90 geht’s ja auch noch.

Das ist nun über 30 Jahre her, war im 1. Drittel der Lebensspielzeit. Im 2. Drittel fing ich mit Mountainbike und Rennrad an und hörte wieder auf. Ich arbeitete, hatte Familie und verhinderte den sozialen Abstieg, siehe Kapitel „Angst“. Ich wurde mobbelisch, wie wir Hessen sagen. Und kultivierte meine Komfortzone. Zweiradbegeistert blieb ich, doch nun hatten es mir die eBikes angetan. Mit denen haben die beste Lebensgefährtin von allen und ich tolle und auch anstrengende Fahrten gemacht, der Mont Ventoux spielte aber nur noch eine Rolle, wenn er Teil einer Etappe bei der Tour de France war. Jedes Mal gab es einen Stich im Herzen, aber ich war ja nie fit und konnte nicht trainieren. Und ich verhinderte weiterhin mit allen mir zu Verfügung stehenden Kräften den sozialen Abstieg, der immer mehr drohte. Und Zeit habe ich sowieso keine, die Kunden brauchen mich, schliesslich mache ich ja einen Job mit Sinn in Coronazeiten. Nicht, dass da noch einer absteigt.

Und jetzt, wo das 3. Drittel des Lebens unwiderruflich begonnen hat? Kurz vor meinem Geburtstag, frisch aus der Bretagne nach den tollen Rennradausflügen und kurz nach dem Finale der Tour sah ich zufällig auf Netflix einen holländischen Film mit dem Titel „Mont Ventoux“. In Originalsprache mit Untertiteln, Ihr könnt erahnen, wie es um mich stand. Es ging um 5 Holländer, die in ihrer Jugend den Berg mit Rennrädern bezwangen. Auf der Abfahrt kam einer von ihnen ums Leben, was jahrelange Schuldgefühle bei den anderen auslöste. Warum, ging in meinen Kenntnissen der holländischen Sprache etwas unter. Um das Trauma zu besiegen, haben sie den Berg 30 Jahre später wieder mit Rennrädern bezwungen. Kurz vorm letzten Drittel ihres Lebens. Wie allegorisch ist das denn? Ein Wink des Schicksals? Eine Botschaft von Oben? Ich vergoss dann auch wegen des Happy Ends hormongesteuert angemessen viele Tränen – sie haben es geschafft – und fasste einen Entschluss: rund um meinen 60sten werde ich auch dort Oben stehen. Mit dem Rennrad. „Whatever it takes!“, „who want´s to live for ever?“. Pathos gehört wohl auch zu diesen Hormonaufwallungen.

Unser heimischer Mont Ventoux heisst Feldberg, sogar grosser Feldberg. Ist genauso bescheiden zu befahren wie der grosse Bruder in der Provence. Egal von welcher Seite man kommt, es geht keinen Meter gerade oder sogar bergab. Und wird kurz vor dem Gipfel noch mal ordentlich steil. Kein Meter, auf dem man mal die Beine kurz hängen lassen kann. Ja, hier kann man redlich leiden und Heldengeschichte schreiben. Nervtötende Motorradfahrer gibt es hier ebenfalls – na so was, Überraschung – und auch Radlegenden. Wie den Halbprofi, der sich einen Spass daraus machte, mit einem Jugendrad mit Dreigangnabenschaltung die Cracks auf ihren Rennmaschinen in Grund und Boden zu fahren. Verkleidet als Pilzsammler. Vor dem waren die Radler nie sicher, denn er machte das auch auf den Mountainbiketrails. Und oben ist immer mehr Wind und damit schon im Frühherbst ordentlich kühl. Die Kuppe ist auch kahl, einen legendären Felsen – Sigfried was here – gibt es auch. Check! Hat bei allen Gemeinsamkeiten gegenüber dem Mont Ventoux einen Riesen Vorteil: er ist nicht weit weg.

Eingedenk des Films – wahrscheinlich habe ich holländisch geträumt – wachte ich an meinem 59sten auf und beschloss, mir zum ersten Mal nach 25 Jahren den Feldberg mit dem Rennrad untertan zu machen. Um jeden Preis! Freddy sang wieder, wie lange wirken eigentlich die Pathoshormone? Ich kenne hier jeden Meter Straße, war unzählige Male mit jeder Art Fahrzeug oben. Ich wusste, was auf mich zukommt. Ich wusste, ich würde leiden, untrainiert im Bergfahren wie ich nun mal war. Immerhin hatte ich durch die Ernährungsumstellung, das Fitnessstudio und die ersten Rennradtouren mein Kampfgewicht von damals wieder. Ja ja, damals, als ich mit Mountainbike und Rennrad wöchentlich 2 mal hochfuhr. Achtung, Oppa erzählt vom Krieg. Und es wurde zäh, verdammt zäh. Bis zur Hälfte ging es ganz gut, dann musste ich jeden Meter erkämpfen. Die Beine brannten, der Rücken schmerzte, der Hintern tat einfach nur weh, ich war Jan Ulrich, der in den Vogesen einbrach und Tadej Pogacar im Anstieg nach Courchevel. Aber keiner rief „Quäl Dich, Du Sau“ und nahm mich in Schlepptau, ich hatte auch keinen Marc Soler. IMist aber auch! Ungerecht, die Welt ist schlecht. Der aufweichende Asphalt bremste mich zusätzlich. Gegenwind kam natürlich auch auf. Entgegen meines Gefühls war ich laut Apple Watch herzfrequenzmässig aber noch im gesunden Bereich. „Hilft ja nix, weitertreten“, sagte die Siri. Also trat ich weiter. Und vor meinem geistigen Auge sah ich mich auf dem Gipfel stehen und eine Wurst essen. Pathetisch das Schwert ziehen ging ja nicht, also Wurst.

Dann war ich Oben. Glückseligkeit: leiden und glücklich sein. Die Welt lag mir zu Füssen, Applaus brandete auf, Küsse flogen mir zu, ich bin der König der Welt. Jetzt war also Leonardo die Caprio auch mit da Oben. Der Feldbergkiosk hat übrigens gute geräucherte Würste, falls jetzt jemand ein Bild im Kopf hat. Aber der grosse Vorteil des Feldbergbikens ist: zurück geht es nur bergab. Fast bis nach Hause. Deshalb konnte ich auch ohne Angst, auf dem Heimweg einzubrechen, bis zur Erschöpfung nach Oben fahren.

Ich fasste den Entschluss, fortan mindestens 2 Mal pro Woche den Feldberg zu erklimmen, wenn es das Wetter und die Umstände zulassen. Und ziehe das durch. Bei jedem Anstieg fangen die Beine erst ein paar hundert Meter später an zu brennen, der Rücken gewöhnt sich an die leicht devote Haltung auf dem Rennrad und der Mördersattel wird weicher. Ich fange an, mich an der Umgebung und den Gerüchen zu erfreuen und mag den glatten Asphalt. Ich werde zum Strava-Freak. Datenschutz vs. Selbstoptimierung und Vergleich mit anderen echten Kerlen. Die Bundesjugendspiele kamen aus einem dunklen Winkel der Erinnerung hervor, mein Managementhirn jubiliert. Aber es zeigt mir, dass ich Fortschritte mache. Ich habe aufgerüstet: das e-Mountainbike verkauft und dafür ein gebrauchtes Cannondale mit Karbonrahmen, DI2 und Scheibenbremsen gekauft.

Mont Ventoux, ich komme!

Kategorien: Sport

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Avatar-Platzhalter

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert