Oh der Sommer: Hitze, Urlaub, je nach aktueller Sehnsucht der Süden oder der Norden, Berge, Meer, Biken, Biergarten, Campingplatz und …… leiden. Ja, richtig gehört: leiden! Also erst mal nicht ich, sondern die Anderen. Die, die sich auf dem Rennrad durch Regen, Hitze, Staub und Dreck die Berge hoch hoch und runter quälen, freiwillig. Es ist die Zeit der Tour.

Das Frühjahr hindurch wurde ich geteast: Paris-Nizza, Paris-Roubaix, Fleche Wallone, Giro, Dauphine Libere zielten auf den Höhepunkt des Jahres. Ich hatte ja Zeit, Eurosport zu gucken. Mir kribbelte es vorm Fernseher in den Beinen, juckte im Hintern, ich konnte die Sonne auf den Armen fast schon spüren, das fast lautlose Gleiten auf dem Asphalt erleben (vergesst bitte Karbonfelgen!), das Spiel der Muskeln fühlen und ich wollte den Schmerz besiegen, ganz so wie die Profis auf ihren Rädern. Auf dem eBike können zwar der Hintern und die Beine auch ganz schön schmerzen, doch das ist nicht dasselbe, echt nicht. Rennrad ist die Königsklasse.

Die Tour de Swiss wollte ich zu meiner Vorbereitung auf die Tour nutzen. Also die Kleinanzeigen App öffnen und mal gucken, was so käuflich für kleines Geld zu erwerben ist. In den Radladen gehen und mich dort von Verkäufern Typ „Frankfurt-Gardasee in 2 Tagen“ in die Trekkingrad oder eBike- Ecke abschieben zu lassen, war nicht so meins. Diplomatie und Kundenwunsch verstehen steht meiner Erfahrung nach ganz oben im Anforderungsprofil eines Fitnesstrainers, bei Bikeverkäufern aber vermute ich, dass es eher vergessen wurde, als das Profil erstellt wurde. Die eine oder andere Ausnahme gibt es, sonst hätte ich nicht die perfekte Radhose. Danke an den tollen Verkäufer bei Fahrrad Denfeld, obwohl ich immer 10 mal mehr ausgebe als geplant. Es lohnt sich immer. Fürs Rennrad aber lieber mal im Gedächtnis gekramt und die Kenntnisse aus meiner aktiveren Zeit genutzt. Zu der Zeit war der Alurahmen im mittleren Preissegment recht frisch, die Taiwanesen hatten endlich gelernt, wie man Alurahmen in Großserie schweissen kann, die integrierten Schalt-/ Bremshebel STI von Shimano kamen auf und man hat erkannt, dass man mit 42/19 nicht so wirklich gut Berge fahren kann. Ausser, man ist Miguel Indurain, was aber nur ein mal in der Welt vorkam. Bikes unter 10kg gab es auch schon im mittleren Preissegment. So definierte ich dann meine Anforderungen. Und mehr als 400 Euro wollte ich erst mal nicht ausgeben. Die Auswahl ist tatsächlich groß. Wer sich allerdings auf alte Testberichte zur Entscheidungsfindung berufen möchte, wird meist enttäuscht. Dieses Internet war zur Zeit der beschriebenen Räder noch Neuland in Deutschland.

Das Rad meiner Wahl ist ein Cicli B, Custom Built by Radsport Lohmann in Kassel. 3-fach Ultegra mit 14-25 Kassette, 9,5 Kilo, Mörder-Sattel, gegen den der gute alte Flite wie ein Fernsehsofa anmutet. Das ganze Ding steif wie meine fast 60 jährigen Knochen und bockhart auf 25mm Reifen bei 8 bar. Die galten seinerzeit als Breitreifen. Es strahlte echte Härte für echte Männer aus, das versprach schon mal angemessenes Leiden. Die Probefahrt war…… – nun ja – interessant. Seit 11 Jahren fahre ich ja nur e-Fully- Sänften und schwebe über den Widrigkeiten der Strasse. Mit eingebautem Rückenwind. Mit dem Rennrad dagegen ging gefühlt erst mal gar nichts voran, jeder Gullydeckel tat weh und zu allem Überfluss konnte ich es mir nicht gescheit einstellen. Einfach mal sitzen ging nicht. Was soll’s: das Ding ins Auto packen und mal in Ruhe an mich anpassen und dann mal weitersehen. Bezahlen und glücklich sein, ich habe im Leben schon teurere Dinge als dieses für 300 Euro ungenutzt in den Keller oder die Garage gestellt. Noch ein paar Schuhe für die Klickpedale bei Decathlon gekauft. Unglaublich, ich bekam ein paar Nachbauten der MTB-Schuhe, die ich vor einem halben Leben hatte, das nenne ich mal Retrodesign. Zur Vorbereitung die Zusammenfassung der letzten Etappe der Tour de Swiss reingezogen und los ging’s. I was on the road again.

Aber nicht lange. Ich hielt etwa alle 300 Meter an. Sattel ein paar Millimeter hoch, dann runter, dann vor, dann zurück. Das gleiche mit dem Lenker. Dann Pedale, denn die Cleats lassen sich ja auch verschieben und verdrehen. Hat eigentlich mal jemand errechnet, wie viele theoretische Sitzpositionen ein Rennrad bietet? Ich bin da allerdings auch ein echtes Sensibelchen vor dem Herrn, aber nach etwa 30 Kilometern hatte ich es. Mein ernst gemeinter Tipp: NIEMALS 2 Einstellung auf einmal ändern, ist wie in der IT. Im Gegensatz zu IT, wo man ziemlich lange Kompetenz bei gleichzeigem Hang zum Rumprobieren ausstrahlen kann, machte sich hier jede kleinste Änderung unmittelbar bemerkbar. Ich kam dann sogar voran, konnte bergab das fast lautlose Gleiten geniessen. „Dieses leichte Klicken aus dem Pedalbereich macht mich wahnsinnig“, das Sensibelchen in mir war also noch da. Und am ersten „Berg“ durfte ich mich richtig quälen. Immer in der Angst, dass die Kreiselkräfte jeden Moment versagen könnten, so langsam fühlte ich mich. Ebene gibt es im Taunus nicht und so wurden es 350 Höhenmeter aus eigener Kraft. Ich war glücklich! Und es klappte: die Endorphine vertrieben die Schmerzen.

Und dann begann die Tour. Mein Highlight des Jahres, ich war ein Günstling des Schicksals. War ja mit den Massnahmen zur geistigen Gesundung durch körperliche Fitness krank geschrieben und konnte erst ´ne Runde mit dem Rad drehen und dann das Finale der Tagesetappe ansehen. Ich litt also auf der Straße bergauf – bergab glücklich vor mich hin und konnte dann das Leiden der Anderen bewundern. Leiden und glücklich sein: klingt für Nicht-Rennradler ganz schön bescheuert, oder? Erste Reaktionen auf diesen Text zeigen übrigens ganz klar: es klingt nicht nur bescheuert, es ist bescheuert.

Natürlich habe ich einen gewissen Hang zur Übertreibung und nenne als Sozialisierter der nahezu bewegungsphobischer Gesellschaft alles ausserhalb meiner Komfortzone „Leiden“. Aber es gehört auch zum guten Ton in der Rennrad-Szene. Ausserdem steuert mich mein über Jahrhunderte trainiertes Urzeithirn in eine bestimmte Richtung. Das speichert nämlich alles, was außerhalb der Komfortzone ist, als Gefahr und damit beachtenswert und erinnerungsbedürftig ab. Speedpedelec fahren im Rausch der Geschwindigkeit oder mit dem e-Mountainbike einen Trail hoch- statt runterballern finde ich auch anstrengend, der Hintern tut auch weh, über Hitze oder Regen wollen wir gar nicht reden und es bringt auch eine gute Grundlagenausdauer, aaaber……..: auf diesen Gefährten kann ich auch mal loslassen und mich vom Motor vorantreiben lassen, wenn die Beine mal nicht so richtig wollen oder ich anfange, in der Regenjacke zu schwitzen oder ich einfach mal Cruisen will. Aber das Urzeithirn bleibt bei diesen Aktivitäten im Dashcammodus. An die körperlichen Grenzen kamen ich und die beste Lebensgefährtin von allen trotzdem recht oft, z.B. als wir 2 x 35 kg Speedpedelecs + je 15 kg Gepäck übers Pfitscherjoch schleppten oder bei minus 10 Grad zur Arbeit fuhren. Geht auch, muss man auch wirklich wollen. Und das speichert sogar das Urzeithirn unwiderruflich ab. Waren gute Zeiten.

Rennrad fahren gehört eindeutig zu den Fortbewegungen ausserhalb der Komfortzone, erst recht der eines fitten Dicken am Anfang seiner Trainingseinheiten. Mein Urzeithirn schickte mir sofort die Bilder und Gefühle der Rennradausfahrten von vor 25 Jahren auf den inneren Schirm: die schmerzenden Oberschenkel, den wundgesessenen Bobbes (wie wir Hessen sagen), die eingeschlafenen Gliedmassen, die dank vergessener Jacke eisigen Abfahrten und dabei gefühllosen Hände in kurzen Handschuhen, die Schlaglöcher, die ungefiltert in den Rücken gehen, die schmerzenden Handgelenke, sogar die als Schmach empfundenen zahlreichen Umkehrten vor dem Gipfel…..was will man mehr? Die Botschaft war: „lass´ es!“.

Doch die Dashcam hatte doch noch einen Speicher, es blitzte auch auf, wenn auch undank der Evolution kürzer: das Sirren der Reifen auf glattem Asphalt, das Gefühl des lautlosen Dahingleitens aus eigener Kraft, das Gipfelglück (besonders auf dem Kreuzberg in der Rhön, Kenner wissen, warum, Stichwort Klosterbier), das kleine Häuflein Rennradler auf dem Feldberg, das sich dicht zusammen stehend bei minus 10 Grad die anstehende Abfahrt warm redete, die Beine, die mich wider erwarten doch noch die letzte Steigung hinauf trugen, der Geruch des Herbstlaubes oder der Sommerwiese, die Aussicht auf die Lichter der Stadt, wenn es wieder mal spät wurde und sie mir zu Füssen lag. Du kannst jeden Ort aus eigener Kraft erreichen, das ist Freiheit. Na ja, vorausgesetzt, Du hast Werkzeug, Pumpe und Ersatzschlauch mit. Unbeschreiblich aber das Gefühl, wenn es nach viel Improvisation bei der Reparatur wieder weiter ging. Lichter der Stadt und so. Hey, unterm Strich ist das doch viel besser als das, was mein Urzeithirn zuerst raus liess. Und genau so schön wurde es jetzt wieder. Urzeithirn, Du kannst mich mal!

Es wurde in diesem Jahr sogar noch besser, denn wir fuhren mit dem Wohnmobil nach Frankreich. Genauer: in die wildromantische Bretagne. Direkt an die Steilküste am Meer. Die Speedpedelecs ruhten auf dem Heckträger, das Rennrad sanft auf dem Bett. Falls hier jemand das falsche Bild vor seinen Augen hat: nachts musste es aber raus, so weit geht die Liebe dann doch nicht. Obwohl….. mein Mountainbike von früher hätte gute Chancen gehabt, im Trockenen zu bleiben. Es war fantastisch, Träume wurden wahr: ich fuhr zu Tour Zeiten in Frankreich Rennrad. Die Zuschauer waren völlig aus dem Häuschen. Mittags Gleiten auf schmalen Landstraßen oberhalb der Steilküste, dann vorbei an wundervollen Steinhäusern mir riesigen Blumengärten. Dazu immer den Geruch des stets nahen Meeres in der Nase noch eine kleine Extrarunde drehen und zurück zur Base, einen Café au Lait schlürfen und das Etappenfinale oder mindestens die Zusammenfassung auf dem Tablet sehen. Sogar die beste Lebensgefährtin von allen fieberte mit. Ich habe zu Tour de France Zeiten schon wesentlich schlechter gelitten.

Kategorien: Sport

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