Das Radfahren als Frage der Existenz: wer oder was wirst Du, wenn Du nicht radelst?
Das wurde ich im November gefragt, als ich ziemlich in den Seilen hing, körperlich malade, geistig im Dunklen tappend, irgendwie wollte es nicht zusammen laufen, draussen war es dunkel, kalt windig und nass. Ich hätte schon sehr auf´s Rad wollen müssen, wollte aber nicht. Mit anderen Worten: der Schweinehund sass in der warmen Schmollecke und wusste nicht so recht, wer er war und was er wollte. Junge, Du bist jetzt 60, reiss´ Dich mal zusammen, such´ Dir ein anderes Hobby, tu´ was! Vielleicht spielt Dein Körper irgendwann nicht mehr mit und dann hast Du nichts. Oder es ist wie jetzt im Moment, das reicht schon, Du bist unausstehlich!
Ok, kurzer Blick nach Innen: nichts! Auch, wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Nennt mich monothematisch, es entstanden immer nur Bilder vom Radfahren und von Touren, die ich noch machen wollte. Challenges, die ich noch annehmen wollte. So Dinge wie: einen KOM wirst Du ja noch schaffen……. Na ja, zumindest wurde mir dabei immerhin klar, dass ich Herausforderungen, die mich über irgendeine körperliche oder geistige Grenze hinaus brachten, brauchte. Und zwar heftig brauchte. Immer mal sehen, wie weit ich komme und dann ein Stückchen weiter. Muss auch weh tun, das soll wohl so…………
Ok also, what´s next, wie komme ich weiter? Erst mal ein bisschen was bingen, ich darf das………
Zumindest halfen mir Netflix, Instagram und eine ältere Spotify-Playlist dabei, mich direkt wieder in meine Situation vor 2 Jahren zu befördern. Vor ziemlich genau 2 Jahren war ich dick, ausgebrannt, frustriert, gereizt, bekennender Pessimist, gesundheitlich mehr am A….. , als ich wahrnehmen wollte. Ich habe in meinen Blogs, auch hier unter SeeFeelDrive, darüber geschrieben. Und genau dieses Gefühl überkam mich wieder. Danke für nix, liebe Ablenkungsmaschinerie!
Obwohl ich mein Leben geändert habe, beruflich zum Bike Guide, Fitnesstrainer und Reiseleiter geworden bin. Meine Berg-Challenge ( Großklockner) bewältigt habe, meinen Brevet ( Hessen Dreier ) gefahren bin und mit dem kürzlich erworbenen Gravelbike die Taunusstrecken abfahre, die ich früher mit dem Mountainbike gefahren bin. Und zwar schneller als vor 30 Jahren, besonders bergauf. Sieh´ mal an: mein Geist ist irgendwie nicht ganz mitgekommen und verharrt im alten Leben. Konditionierung ist alles. Der Geist sagte also: „wenn Du nicht auf´s Rad steigst, bleibe ich bei dem, was ich jahrelang kannte. Schau´ weiter Netflix! Oder rege Dich weiter ausgiebig über die Welt auf !) „

Wow! Und nun? Ok, mit ein paar Ausfahrten auf dem Gravelbike bei immerhin nur mittlerem Schmuddelwetter war dann wieder Ruhe im Geist, eine Frage blieb allerdings: wie bringe ihn dazu, mir zu folgen und das „Jetzt ist es nunmal anders als früher“, also das „Ist“ zu akzeptieren?
Die beste Lebensgefährtin von Allen war auf einem Vipassana – Seminar und brachte eine Möglichkeit mit. 10 Tage keine Kommunikation, auch nicht non-verbal, den ganzen Tag meditieren, nichts anderes machen als Schlafen, Essen, Meditieren machte sie zu einem anderen Menschen. Gelassener, fröhlicher, viel mehr im „Jetzt“ lebend. Ich habe tatsächlich noch ein paar Wochen gebraucht, bis ich das geschnallt habe. 10 Tage alleine mit meinen Gedanken und doch unter Menschen sein, dazu noch 10 Tage still sitzen, kein Sport, keine Bewegung, Gelände nicht verlassen, was für eine Horrorvorstellung. Nur me, myself und I. Habe mich schliesslich angemeldet. Ihr wisst schon, Challenge und so……… .
Dort angekommen, fand ich vor: einen Aussiedlerhof in der Pampa, 3 Dixi-Klos auf dem Hof, 6-Bett Zimmer ( immerhin mit Innenklo, oft besetzt ), Aussentreppe bei -5 Grad, ungeheizter Vorraum, Aufstehen um 04:15, strikte Zeitvorgaben, Essen um 6:30 und 11:30, dann nur Obst und Tee. Und ganz viele Regeln. Eine Art Klostergefängnis. Nun, im ersten Vortrag hiess es: „es ist wie in einem Gefängnis, Du willst hier weg! Lass`Dich trotzdem darauf ein, damit Du selbst entscheiden kannst und nicht nur Deiner Komfortzonen-Konditionierung folgst.“ Überraschung, ich war nicht der Erste, der so denkt. Die Challenge war angenommen, wollen doch mal sehen, wer ausdauernder sitzen kann. Und unbequem sitzen und Schmerzen aushalten kann ich als Brevet-Bewältiger und Höhenmeter-Schredderer gewiss. Im schlimmsten Fall komme ich hier immerhin mit ordentlich Sitzfleisch und geradem Rücken raus.
Nun, was soll ich berichten? Nach 3 Tagen wäre ich in jedes Kloster eingetreten, so lange sie mir garantieren: früh aufstehen, dann ein bisschen meditieren oder den grossen Zarkon/ Jehova/ Brian/ wenauchimmer anbeten oder sonstige Esoterik machen, dann Frühstück, dann ein bisschen was für die Gemeinschaft in Küche, Garten oder Keller arbeiten, Essen, dann wieder meditieren oder beten, dann Abendessen, dann zur guten Nacht meditieren oder beten, schlafen, repeat……. so „Name-der-Rose-mässig“, nur ohne Intrigen und Morde…….Mein Rücken wurde gerader.
Mein Geist gradliniger. Vipassa bedeutet ganz vereinfacht: konzentriere Dich auf das, was ist. Und das ist das universelle Gesetz von Erscheinen und Vergehen. Deshalb konzentriere Dich auf Deinen Atem und das, was Du an Empfindungen am Körper spürst. Wie diese erscheinen und wieder vergehen. Mit systematischer Vorgehensweise, wie ein Körperscan. Diese Empfindungen, angenehm oder unangenehm, kommen aus Deinem unbewussten Geist. Beobachte sie mit Gleichmut und reagiere nicht darauf, so durchbrichst Deine Konditionierungen und reinigst diesen Geist. Und hör´ auf rumzuzappeln, sitze aufrecht völlig regungslos, mindestens eine Stunde lang. Es funktionierte!
Wenn auch nur unter höchster Konzentration und Anspannung. Aber es ging und tat dann auch immer besser. Und die Begleitregeln, Klappe halten und so? Es ist faszinierend, wie sich 6 erwachsene Männer 10 Tage lang auf 20qm arrangieren können, wenn sie nicht kommunizieren dürfen. Keiner konnte sich als Alpha und Bestimmer hervorlabern. Und 45 Männer schweigend beim Essen, nebenan völlige Stille bei 45 Frauen. In Gemeinschaft und doch nicht alleine. 10 Tage aus der Welt raus, ganz bei sich sein, das war echt toll.
Mein Geist und mein Körper kamen alleine schon durch die Konzentration auf das Hier und Jetzt zusammen. Irgendwie fand ich auf dem Vipassana – Seminar das fehlende Puzzleteil, um wirklich ganz zu werden. Um in der Gegenwart zu sein, ohne dass ein Teil von mir immer in der Vergangenheit lebt und der andere Teil in eine krumme ( kann ich nicht anders ausdrücken ) Zukunft, die eintreten KÖNNTE.
Cyclo, ergo sum – ich radel, um zu sein! Ja natürlich definiere ich mein Da-Sein weiterhin dadurch, dass ich auf einem Fahrradsattel sitze. Natürlich in wunderschöner Gegend, diese Saison ab April auf Korsika, beim störrischen Esel ( wie passend ) im Feriendorf. Ich werde die Bike-Klamotten nach wie vor wie eine Rüstung anlegen. Mich herausfordern ( lassen ). Und oft auch monothematisch sein. Radsportaktuell leer lesen, Richie, Toby und Max zuhören, TdF gucken, also alles machen, was die Drumherumseienden manchmal – na ja, oft – nervt. Aber ich brauche es immer weniger, mich von meiner Vergangenheit zu lösen oder meine oft seltsamen Gedanken über eine mögliche Zukunft stumm zu schalten. Ich meditiere weiterhin auf dem Weg zu mehr Gleichmut. In dem stärker werdenden Bewusstsein, dass sich mein „Ich“ sowie alles um mich herum in jeder millionenstel Sekunde verändert. Anicce – alles kommt, alles vergeht!
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